Zum 40. Todestag des skeptischen Humanisten

Ludwig Marcuse

Am 2. August 2011 jährt sich der Todestag von Ludwig Marcuse zum 40. Mal. Es gilt an einen skeptischen Humanisten zu erinnern, der bei allen Hindernissen und Schicksalsschlägen, die das Leben für ihn bereithielt, stets ein streitbarer Individualist und ein Liebhaber des Glücks geblieben ist.

Heute ist Ludwig Marcuse (1894-1971) bedauerlicherweise fast vergessen. Dabei ist er ein ausgesprochen moderner Denker, dessen illusionslose, ideologiekritische Position dem Wissenschaftsbegriff eines kritischen Rationalismus weitgehend entspricht. Statt sich auf metaphysische Postulate zu verlassen, denen mancherorts gar ein absoluter Wahrheitsanspruch zuerkannt wird, vertraut er eher dem Prozess von Versuch und Irrtum, der eine Theorie oder eine Hypothese nur so lange gelten lässt, als sie nicht widerlegt ist und durch eine geeignetere ersetzt werden muss. Obwohl indes Marcuse diese Position in der Fülle seiner Bücher und Aufsätze seinen Gedanken immer wieder zu Grunde legt, ist er doch kein akademischer Denker, dem es darum gegangen wäre, ein wohlgegliedertes System dafür zu entwickeln und sich wissenschaftlich zu profilieren. Er lässt sich vielmehr vom systemlosen, vielgestaltigen Leben faszinieren, ohne dass er es einer von Menschen konstruierten Theorie vollständig unterwerfen wollte; es geht ihm vor allem um den Anspruch des Individuums auf eine humane, glückliche Zeit im Hier und Jetzt. Alle Gesellschaftssysteme, Verfassungen und Staatsorganisationen haben nur diesem einen Ziel zu dienen, indem sie vor allem Freiheit und Gerechtigkeit gewährleisten und dadurch den geeigneten Rahmen bilden für Humanität und individuelles Glück. Daran misst er die Realitäten. Er schließt keinerlei faule Kompromisse, weist vielmehr stets auf die Schwachstellen hin, die er entdeckt, und schert sich dabei in keiner Weise um den Zeitgeist.

Mit einer solchen Haltung macht man sich freilich nur wenige Freunde, das Etikett einer prägenden, markanten Wegweisung lässt sich damit nicht erwerben. Nur dem humanistischen Menschenbild, dem individuellen Anspruch auf Glück verpflichtet zu sein und nicht transzendental durchstrukturierten Aprioris und im Vernunftgrund verankerten moralischen Imperativen, ist dem deutschen Philosophen und Wissenschaftler eher verdächtig als genehm.1 Und Politikern ist ein solcher Anspruch besonders suspekt, könnte er doch den gesellschaftlichen Konsens gefährden, den man vielleicht soeben erst unter Mühen hergestellt hat, und einer anarchischen Vielfalt den Vorrang einräumen vor der einfältigen Ordnung von Regeln und Gewohnheiten.

Angesichts der seit Jahren unverwüstlichen postvisionären Übersichtlichkeit in Deutschland und Europa, der nicht einmal monetäre und konjunkturelle Krisen globalen Ausmaßes wirklich etwas anhaben können, gilt es, Ludwig Marcuse und seine Aktualität wieder zu entdecken. Denn nach wie vor ist die schwache Position des Individuums politisch festgezurrt. Allerorten überwölben es ökonomische Kollektive, soziale Systeme, Proporzstrukturen und politische Theorien, auch wenn der real existierende Sozialismus dem Verlangen nach Marktwirtschaft und wohltemperierter Freiheit nicht beikommen konnte, wenigstens nicht in unserer südöstlichen Nachbarschaft und schon gar nicht im eigenen Beritt, sprich: im Gehege des deutschen Michel (das wäre ja auch noch schöner!). Marcuse zu lesen bedeutet, ein Gegengift gegen Unterdrückung, Vermassung, Nivellierung und Ausgrenzung zu entdecken. Dies Gegengift gilt es zu propagieren.

Ludwig Marcuse, geboren am 8. Februar 1894 in Berlin, wächst in einem von Nationalismus und Humanismus geprägten, großbürgerlichen Elternhaus auf. Der humanistische Einfluss ist verbunden mit Namen wie Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, dessen Liebe zum klassischen Altertum und zur griechischen Sprache dem jungen Marcuse gleichermaßen imponiert wie sein pathetischer Patriotismus; er wird vertieft, wenn auch nicht gänzlich verinnerlicht, durch den Besuch des humanistischen Friedrich-Werder’schen Gymnasiums. 1913 beginnt Marcuse sein Philosophiestudium in Berlin; zunächst nehmen ihn Psychologie (die er für ein Unterfach der Philosophie hält) und Logik in Anspruch, er studiert bei Carl Stumpf und Benno Erdmann, bevor er feststellt, dass hier nicht seine eigentlichen Interessen liegen: „Ich lud mir auf, was nicht zu tragen war, und fühlte mich wie ein Ertrinkender; und brachte alle diese Opfer nicht für ein Examen, nicht für eine Stellung, sondern um einer nebelhaften ,Pflicht‘ willen.“ So beschreibt er es in seiner Autobiografie „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ aus dem Jahre 1960.

Bald aber entdeckt Marcuse philosophische Ideen, die ihn wirklich faszinieren, vor allem in der individualistischen Lebensphilosophie des Georg Simmel (1858-1918), dessen Vorlesungen er in Berlin noch hört. Zum dritten Semester wechselt er nach Freiburg, wo er bei Heinrich Rickert vorübergehend zum Neukantianer wird: „Ich wurde ein wilder Parteigänger, Neu-Kantianer dezidiert südwestdeutscher Prägung. Ich wurde sehr intolerant (wozu ich schon immer neigte) und ein hochgelehrter Streithammel. (…) Rickert erklärte dies System [das ‚System der Werte‘], nach einem Lieblingstrick des zwanzigsten Jahrhunderts, für ‚offen‘; obwohl ein offenes System ein hölzernes Eisen ist. (…) Das offene System war leider so ‚offen‘, so gastfreundlich, dass es von Heinrich Rickert, dem Sohn des berühmten deutschen Freisinnigen, in den Dreißigerjahren – mit ihrer [Hitlers und Stalins] deutschen Ideologie gefüllt werden konnte… Zwanzig Jahre zuvor aber, 1914, war ich überwältigt von der gedanklichen Schärfe dieses scharfsinnigen Scholastikers des Neu-Kantianismus.“ Der Erste Weltkrieg unterbricht seine Studien, er meldet sich freiwillig zum Kriegsdienst, bringt es aber lediglich zum Schreibstubenhocker und zu niedrigen logistischen Ehren.

1917 promoviert Marcuse in Berlin bei Ernst Troeltsch, dem späteren Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei. Sein Thema: „Die Individualität als Wert und die Philosophie Friedrich Nietzsches“. Danach wird er Assistent bei Troeltsch, bricht seine akademische Karriere jedoch nach dessen Tod im Jahre 1923 vorläufig ab.

Die Einflüsse des philosophischen Studiums, vor allem der Beschäftigung mit der hellenistischen Philosophie, mit Kant, Nietzsche und Simmel, sind gewiss prägend für die geistige Orientierung Marcuses; nicht weniger wichtig ist indessen die Begeisterung für die schöne Literatur für das Theater, die ihn schon in seiner Gymnasialzeit in Anspruch nimmt. Hier sind es vor allem die tragischen Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhuderts und die Expressionisten des 20., denen er sich eng verbunden fühlt. Die tragische Grundhaltung, resultierend aus der Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens angesichts der Unausweichlichkeit des Todes, wird zu einer Konstante in Marcuses Leben und Schreiben. Die Publikation früher Bücher über Georg Büchner, August Strindberg, Gerhart Hauptmann und „Die Welt der Tragödie“ sind die Folge. Auch sein beruflicher Weg in die journalistisch-literarische Arbeit, unter anderem als Theaterkritiker des „Frankfurter General-Anzeiger“ und als Herausgeber von belletristischen Anthologien, ist logische Konsequenz dieser Interessen.

Forscht man nach der Grundstimmung und dem erkenntnisleitenden Interesse seiner Bücher, so identifiziert man unschwer das von seinem tragischen Menschenbild geprägte humanistische Engagement einerseits und andererseits die skeptische, illusionslose Suche nach irdischen Glücksmöglichkeiten, die bis in seine letzten Publikationen erhalten bleiben. Die Anteilnahme an allem diesseitig Menschlichen führt ihn weg von den großen, metaphysischen Entwürfen der systematischen Denker und hin zum Nachdenken über jene „winzige Minderheit“, über das verletzliche, schutzlose Individuum, für dessen Wohlergehen einzig sich Engagement lohne. Und zwar nicht um eines großen ideologischen Zieles, sondern um des bescheidenen, kreatürlichen Mitempfindens, um der Verwirklichung von Humanität willen.

Was Marcuse im Einzelnen darunter versteht, führt er in der Fülle seiner vielfältig interessierten, kenntnisreichen Bücher und Schriften immer wieder nach der gleichen Grundmelodie aus. Zum Beispiel über seinen Freund, den sozialistischen Politiker und Dramatiker Ernst Toller, der sich 1939 aus Verzweiflung an den Bestialitäten seiner Zeit das Leben nahm: „Seine Größe lag auch darin, dass er sich nicht auf die Weltgeschichte hinausredete. – Er war ein tragischer Held. Er ging unter an der Unlösbarkeit dessen, was gelöst werden muss. Große Dichtung ist ‚die Ahnung vom tragischen Grund‘. Mir scheint, dass seine ‚Ahnung‘ am besten in diesem einen Satz durchscheint: ‚Keiner weiß, wie die Armut abzuschaffen ist, keiner, wie die Widersprüche des Völkerlebens friedlich gelöst werden sollen, nur dass es geschehen muss, wissen wir alle.‘“ So stand es 1962 in der „Zeit“.

An diesem Zitat lässt sich exemplifizieren, was bei Marcuse mit dem Begriff des „skeptischen Humanismus“ gekennzeichnet werden kann: Einerseits ist das Engagement für die Belange der Menschen, für ihr leibliches Wohlergehen und ihr friedliches Zusammenleben, eine evidente Notwendigkeit, die sich aus dem „Mit-Leiden“ und der „Mit-Freude“, dem menschlichen Mitgefühl ergibt; andererseits ist es nötig, der Möglichkeit zur Verwirklichung dieses Zustandes gegenüber skeptisch zu bleiben, denn bei aller Einsicht in ihre Notwendigkeit sind die Bedingungen oft unerfüllbar; und selbst wenn das Wohlergehen der Menschen für einen kurzen zeitraum realisiert ist, so bleibt es doch stets gefährdet und bedroht durch sich verändernde Bedingungen und durch die Ntur des Menschen selbst, durch das „factum brutum“, das dem „factum humanum“ entgegensteht.

Geht man von dieser Skizze einer Definition des skeptischen Humanismus aus, so versteht man leicht, warum Marcuse esauch später, als wohlbestallterPhilosophie-Professor im amerikanischen Exil, möglichst vermeidet, sich wissenschaftlichem Habitus und akademischem Gebaren zu fügen. Er führt die Philosophie zurück auf das, was sie dem Menschen, dem Individuum, seiner Meinung nach bedeuten und geben sollte: Orientierungen nämlich für eine seiner Natur angemessene, humane Lebenspraxis und Einsicht in die tragischen Bedingungen seiner Existenz. Er lehnt es ab, Philosophie lediglich als ein gelehrtes System zu verstehen, das seinen Wert am Ende nur noch in sich selbst hätte oder, schlimmer, nur mehr als Rechtfertigung für politische oder religiöse Machtausübung diente. In seiner Autobiografie heißt esdazu: „Nur Menschen, nicht Ideen haben mich beeinflusst; oder nur Ideen, die sehr individuelle Züge zeigten. Philosophie war mir immer Menschen-, nicht Ideen-Geschichte.“

In seinem Exil, das den atheistischen Juden Marcuse 1933 zunächst nach Südfrankreich, von 1939 bis 1962 dann nach Kalifornien verschlägt, führt ihn die Beschäftigung sowohl mit historischen Themen als auch mit aktuell zeitkritischen Reflexionen zum Kern seiner philosophischen Absicht: zum immer neuen Versuch, „das Rätselhafte der Welt immer heller zu machen in seiner Rätselhaftigkeit“. So beschreibt er es 1959 in seinem Buch über „Amerikanisches Philosophieren“. Damit steht er in einer Tradition, die im Deutschland des 20. Jahrhunderts nach dem Abebben des Existentialismus kaum noch Repräsentanten hat und die auch in unserer erklärungs- und begründungssüchtigen Zeit von heute eher abschätzig betrachtet denn ernst genommen wird. Aktuell wird Rätselhafters wieder eher mystifiziert als dass seine Rätselhaftigkeit „heller“ gemacht, also deutlicher ins Bewusstsein gerückt und die fragile Position des Menschen, seine Unwissenheit und Machtlosigkeit, demgegenüber unerschrocken offen gelegt würde.

Seit 1933 konzentriert Marcuse seine schriftstellerische Arbeit wieder särker auf philosophische Themen; Bücher über Ignatius von Loyola, Plato und Dionysos sowie zu den Problemen seiner vom Faschismus und vom Weltkrieg gezeichneten Zeit sind die Folge. Aber auch zu den Wurzeln und Ursachen des Nationalsozialismus stellt er Überlegungen an, zur Geschichte seines Deutschlands, das einen Hitler möglich machen könnte. Dabei stößt er nicht auf Nietzsche, den die Nazis so skrupellos für ihren Terror und ihre Mörderei in Anspruch nahmen, sondern exemplarisch auf Richard Wagner, dessen rassistische Ideologie er ungeachtet allen musikalischen Genies schonungslos an den Pranger stellt. Die Kollegen im Exil, keine geringeren als Thomas Mann und Stefan Zweig, reagieren entsetzt. Deutsche Kultur ist ihnen noch immer der Ausdruck von Tiefe und von moralischer Integrität, sie mit Politik zu besudeln, liegt ihnen fern. Eine Verbindung herzustellen, wie es Marcuse tut, widerstrebt ihrem Selbstverständnis. Marcuse findet keinen Verleger, erst nach dem Krieg kann das Wagnerbuch in Deutschland erscheinen. Mittlerweile wurde die Position Marcuses durch die Arbeiten von Hans Kohn, Gordon Craig, Wolf Lepenies, Jens Malte Fischer und vielen anderen eindrucksvoll bestätigt.

Bis 1962 publiziert Marcuse vom Exil aus, er veröffentlicht 1949 eines seiner schönsten und meistgelesenen Bücher, „Die Philosophie des Glücks“. Obwohl er eine hohe Produktivität entwickelt, auch für durchaus renommierte Zeitschriften und Zeitungen schreibt, übt er indessen doch kaum prägenden Einfluss aus auf den Zeitgeist in seiner Heimat. Vielmehr verhält er sich, besonders in Bezug auf die anti-autoritäre Protestbewegung an den Universitäten, eher konträr dazu, vor allem was die seiner Meinung nach häufig allzu oberflächliche Orientierung an marxistischem Denken angeht; darin ist er sich mit anderen ideologiekritischen Denkern einig, etwa mit Karl R. Popper oder mit Raymond Aron. Die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule mit ihrer negativen Dialektik, die in den Sechzigerjahren in Deutschland am intensivsten diskutierte und einflussreichste Gesellschafts- und Geschichtstheorie, lehnt er rundweg ab: „(…) wie unhuman diese Zukünftler sind. Es ist die Frankfurter Schule, welche die Studenten verhext hat (Wir beide [Rolf Hochhuth und Marcuse, K-H. H.] wissen, dass die Studenten in ihren sachlichen Forderungen Recht haben). Aber der ideologische Quatsch ist gefährlich von den Neo-Marxisten injiziert worden.“ So steht es in einem Brief an den Dramatiker Rolf Hochhuth und so geht es aus dem Briefwechsel hervor, den Marcuse von 1936 bis 1965 mit Max Horkheimer, dem langjährigen Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, führt.

Marcuse bleibt, auch als er 1962 nach. Deutschland zurückkehrt, ein Unzeitgemäßer. Ganz gegen die vom Zeitgeist geforderten intellektuellen Theorien vertritt er in seinen Büchern unbeirrt die Rechte und die Freiheit des Einzelnen gegen alle Vereinnahmungsversuche durch Kollektive und Ideologien. Sein skeptischer Humanismus, sein nüchterner Pessimismus, werden zwar in den Kreisen der Literatur und Philosophie zur Kenntnis genommen, selten aber setzt man sich intensiv damit auseinander. Marcuses in der nihilistischen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts wurzelndes Denken, das unlösbar mit Namen wie Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard und Strindberg verknüpft ist, findet in einer Zeit, in der viele ihrer intellektuellen Exponenten in dieser Tradition auch den Nährboden der faschistischen Diktatur sehen, kaum noch Widerhall. Schon in Amerika hatte er sich publizistisch gegen das dort häufig anzutreffende Missverständnis gewehrt, Nietzsche sei ein geistiger Wegbereiter der Nazis gewesen. Weil er es in der Bundesrepublik der Sechzigerjahre ablehnt, sich neu zu orientieren und der Dominanz „systemkritischer“ Debatten Tribut zu zollen, wird er häufig falsch verstanden, absichtsvoll übersehen oder als Außenseiter abgetan. Horst Wernicke, Dieter Lamping und Wilfried Wenzel haben neben anderen in ihren Arbeiten über Marcuse darauf hingewiesen. Marcuse erkennt sein Außenseitertum durchaus: „In den Kreisen der hohen Literatur wird Rasse und eine Vergangenheit auf der Seite des Feindes erst peinlich: wenn einer nicht die Bonner Palastinhaber anbellt (das beste Alibi heute), sondern die deutschen Denker und Dichter (mit und ohne Anführungsstriche) der Vergangenheit und der Gegenwart. Das Tabu im Superlativ. Ich fürchte, ich störe den eingetragenen Verein der Störenfriede.“ So berichtet er es 1963 seinem Freund Hermann Kesten.

Besonders deutlich kommt seine kritische Haltung zum Geist der Nachkriegszeit in seiner Kontroverse mit Ernst Bloch zum Ausdruck, die freilich in der Öffentlichkeit meist totgeschwiegen wurde, weil sie dem allgemeinen Tenor Jener Jahre, der in Bloch in erster Linie den Denker mit dem Ziel einer „Neuorientierung marxistischer Lehre“ (Ivo Frenzel), weniger den Verfasser einer „Funktionärs-Philosophie“ sah, keineswegs entsprach. Marcuse hat Bloch dessen Glauben an Stalin und die Rechtfertigung des Stalinismus aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren, als er mit ihm das Exil in Frankreich teilte, niemals vergessen; und er findet dessen unkritische, ja zynische, weil „menschenverachtende“ Glaubenshaltung wieder in Blochs Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“, nun lediglich auf die Zukunft projiziert: „Blochs Schema ist so ärmlich, wie es schon immer war: der Teufel hat hier den Namen ,niedergehende Klass‘ oder ‚Faschismus‘ oder ,Ausbeuter‘ oder ,Amerika‘; der Erlöser aber hat den Namen ,Sozialismus‘ oder ,Vor-Schein‘ oder ,reellster Realismus‘ oder ,Sowjet-Union‘.“ Diese Sätze stammen aus der Besprechung des „Prinzips Hoffnung“, die Marcuse für die „Stuttgarter Zeitung“ im März 1960 schrieb. Sie trug ihm Ablehnung und Ausgrenzung, nur in seltenen Fällen auch Zustimmung ein. Einer der Befürworter von Marcuses ideologiekritischer Sicht der Dinge war Gerhard Szczesny, der Herausgeber kritischer Essays zur Zeit in der Buchreihe „Club Voltaire“.

Neben Szczensy, Rolf Hochhuth und Reiner Kunze gibt es allerdings nur wenige Intellektuelle, die Marcuse zuzustimmen bereit sind. Horst Wernicke gehört zu ihnen. In einem Essay über Marcuse mit dem Titel „Der totgeschwiegene Aufklärer – Plädoyer für Ludwig Marcuse“ aus dem Jahr 1987 lässt er sich von der dominanten Verehrung für Bloch nicht blenden und bewertet die Kontroverse folgendermaßen: „Sieht man einmal von einigen polemischen Übertreibungen Marcuses ab, so ist doch sein Hinweis auf die fundamentale Ambivalenz des ,Messianischen‘ neu und berechtigt; Hoffnung muss keineswegs nur in den ,aufrechten Gang‘ münden, sie kann auch als Bereitschaft zur Unterwerfung vor dem vermeintlich Rettenden auftreten. (…) Nach alledem: Bloch oder Marcuse? Im Zweifelsfall und angesichts der Bedrohungen ringsum: für den skeptischen Anarchisten Ludwig Marcuse, denn: Die allein noch mögliche philosophische Ethik kann nur eine Ethik aus dem Geiste des Skeptizismus sein, wie Marcuse sie immer neu entworfen hat; und prinzipielle Hoffnung ist heute eher reaktionär.“2

Eine Parallele hat die Auseinandersetzung mit Ernst Bloch in Marcuses Demaskierung des nach 1945 ebenfalls mancherorts sehr geschätzten Psychologen C. G. Jung, die er bereits 1955 im New Yorker ,,Aufbau“ publiziert. Freilich hat Marcuse bei der Offenlegung des Jung’schen Nazi-Opportunismus, ja, seiner aktiven Beteiligung an nationalsozialistischer Publizistik und seiner späteren scheinbaren Läuterung Mitstreiter; kein Geringerer als Karl R. Popper weist neben anderen ebenfalls auf die „causa Jung“ hin. Aber auch mit dieser Polemik, die Marcuse in seiner Autobiografie fortführt, erzeugt er kaum Wirkung. In der aktuellen Diskussion bleibt er ein Außenseiter.

Indessen will und kann er nichts gegen sein Außenseitertum unternehmen; denn seine skeptische Ethik, sein skeptischer Humanismus, der nichts zu tun hat mit Ideologie und Dogmatik, sondern immer nur antidogmatische Ideologiekritik ist, bildet ein Synonym für sein Leben. Dennoch leidet er unter seiner „Folgenlosigkeit“. In seinem letzten Buch, „Nachruf auf Ludwig Marcuse“, schreibt er: „Es ist ihm nicht gelungen, dem skeptischem Aktivismus, dem nihilistischen Fortschreiten eine Gasse zu bahnen. Aus Feigheit? Möglich. Wer niemand hinter sich hat: keine beliebte Theorie, nicht den Beifall derer, die bestimmten, wie man fortzuschreiten hat muss viel Mut haben.“

So gibt es im Wesentlichen zwei Gründe, warum man ihn und sein Werk auch nach dem Ende der Nazi-Barbarei nicht angemessen gewürdigt hat: Einerseits nahmen die philosophische und die literaturwissenschaftliche Fachdisziplin seine Bücher kaum zur Kenntnis, weil sie weder eine eigene Theorie entwickeln wollten, noch sich nach wissenschaftlich-systematischen Regeln mit Philosophie und Philosophen, Literatur und Literaten beschäftigten (er verzichtete meist auf die Angabe von Quelle den Nachweis von Zitaten und die systematische Herleitung seiner Thesen, genügte also nicht einmal den formal-wissenschaftlichen Ansprüchen); andererseits setzte man sich auch in der politisch-intellektuellen, öffentlichen Diskussion kaum mit ihm auseinander, weil er dem ideologischen Zeitgeist seine Aufwartung verweigerte. Die Entdeckung seiner über das Zeitbedingte hinausweisenden Aktualität steht noch aus, wie man gelegentlich meinte: „Der Dichter und Feuilletonredakteur Emil Belzner ist überzeugt davon, erklärte er uns vor Jahren in Heidelberg, dass Marcuses Werke ihm den verdienten Ruhm erst Jahrzehnte nach seinem Tod einbringen werden.“ Das schrieb sein Schüler und Kollege Harold von Hofe 1974 im „Tintenfaß“, der Zeitschrift des Züricher Diogenes Verlages, in dem er postum Briefe und Essays Marcuses herausgab.

Die Kernthemen, mit denen Marcuse sich beschäftigt, die Fragen nach dem Glück des Menschen, nach dem Sinn seiner Existenz in der Welt und nach den Grundlagen und Möglichkeiten humanen Zusammenlebens, waren und sind zu allen Zeiten nicht nur in der Philosophie aktuell. Deshalb ist es notwendig, seine Werke auf den Beitrag hin zu würdigen, den sie zu einer Erhellung dieser Fragen zu leisten imstande sind, auch wenn es ihm nicht darauf ankam, sich akademischen Gepflogenheiten gemäß zu präsentieren und sich auf die nachhaltig propagierten Themen der Zeit einzulassen.

Wie sein großes Vorbild Friedrich Nietzsche hat Marcuse in seinen Büchern eine Fülle von bisweilen aphoristisch formulierten Einsichten hinterlassen, die zu ordnen eine Philosophie zu entdecken bedeutet, deren Absicht auf die Beantwortung der oben genannten Fragen zielt: Worin besteht das Glück des Menschen? so fragt Marcuse hartnäckig. Und: Wie kann der Mensch Glück finden trotz seiner „tragischen Disposition“, die aus der Vergeblichkeit all‘ seiner Leistungen resultiert?3 Die Haltung Marcuses zu diese Fragen geht aus einer Paraphrase epikureischer Gedanken, einem Zitat, das seiner „Philosophie des Glücks“ entnommen ist, hervor: „Wir werden nach unserem Tod nicht mehr existieren – in alle Ewigkeit nicht. Und doch achtet ihr nicht auf das Einzige, was ihr habt, diese Stunde, die ist. Als ob ihr Macht hättet über den morgigen Tag! Unser Leben wird ruiniert, weil wir es immer aufschieben – zu leben… Du, Mensch, der du heute und hier lebst, du bist nicht da für einen Gott und seine Kirche und nicht für einen Staat und nicht für eine Aufgabe der großmächtigen Kultur. Du bist da, um dein einziges, einmaliges Leben mit Glück zu füllen. Diese Entdeckung trägt den Namen Epikur.“ Der Marcuse-Interpret Horst Wernicke teilt uns mit, dass Marcuse im Zusammenhang mit den Antworten auf seine wichtigsten Fragen gern auf einen Ausspruch von Max Seheier hinwies: „Der Mensch ist unsterblich – aber nicht für lange Zeit.“

Was freilich neben aller Gelehrsamkeit nicht übersehen werden sollte, ist Marcuses Meisterschaft in der Kunst der Formulierung. Sein metaphorischer, häufig höchst eigenwilliger Stil, dessen Brillanz und Anschaulichkeit die Lektüre seiner Bücher und Schriften immer zu einem intellektuellen Vergnügen machen, findet so gut wie keine gleichwertige Konkurrenz in der deutschen essayistischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Allenfalls auf Kurt Hitler, Ralf Dahrendorf und Wolf Lepenies wäre hinzuweisen, um einige ähnlich virtuos formulierende Denker zu benennen. Hinzu kommt sein Kenntnisreichtum, der kaum jemals aufdringlich wirkt, aber stets die souveräne Beherrschung seiner Themen und ihrer Umfelder unter Beweis stellt. Wenn sich der Leser auch nur auf diese beiden Merkmale der Marcuse’schen Arbeiten ohne Vorurteile einlässt, kann er sich der Ausstrahlung, die seine Texte trotz mancher berechtigter Einwände haben, bald nicht mehr entziehen.

Ludwig Marcuse stirbt am 2. August 1971 in Bad Wiessee. Obwohl der Diogenes Verlag nach seinem Tod bis 1994 fast alle seine Bücher in preiswerten Ausgaben wieder auflegt und ein beachtlicher Teil seiner Aufsätze und Kritiken gesammelt erscheint, findet er bisher doch nicht das Interesse, das sich die Herausgeber wohl erhofft hatten. Inzwischen sind die Diogenes-Bücher bis auf einige gängige Titel (z.B. „Die Philosophie des Glücks“, „Amerikanisches Philosophieren“) nicht mehr greifbar, sodass die Perspektiven für eine Wiederentdeckung anscheinend nicht aussichtsreicher werden. Der Zeitgeist jedenfalls hat den Denker Marcuse noch immer nicht erfasst und ist bisher auch von seinen Gedanken nur randständig erfasst worden, so könnte man meinen, wenn man die gegenwärtige Politik einer fantasielosen Begünstigung des kollektiven Sozial-Darwinismus betrachtet. Die Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung der Verluste feiert immer wieder fröhliche Urständ – auf Kosten jener „kleinen, wehrlosen Minderheit“, des Individuums und seines bescheidenen Glücks. Gründe für die Abwesenheit Marcuses in den aktuellen Debatten sind nach wie vor in seinem ganz und gar eigenwilligen, unabhängigen Denken zu finden, das einer bestimmten Schule, Theorie oder Ideologie nicht zuzuordnen ist und deshalb keine Patentrezepte liefert, die als vorgebliche Lösungsmodelle leicht zu vermitteln wären.

Als Eklektiker bedient sich Marcuse überall dort, wo er sich für seine Themen Gewinn verspricht. Er macht es dem Leser schwer, seine Gedanken im Sinne gängiger Schubladisierungen zu etikettieren. Stattdessen führen seine undogmatischen, ideologiekritischen Einsichten zur Skepsis gegenüber den scheinbaren Gewissheiten, die unser tägliches Leben bestimmen. Seine Philosophie bietet weder Trost noch Sicherheit, sondern nur Hinweise auf Möglichkeiten und Bedingungen des kreatürlichen, individuellen Glücks angesichts der tragischen Existenz des Menschen; damit fehlt ihr die Basis für das vordergründig Populäre. Er stellt eben nur das dem Menschen Mögliche dar, in aller Bescheidenheit und ohne die Kräfte, die positiven wie die negativen, seiner Natur zu über- oder zu unterschätzen. Mit Karl R. Popper ist er der Meinung: „Wir müssen lernen, bescheidener zu werden.“ Wir verlieben uns eben eher in das Großartige und Bombastische, das für das Individuum freilich meist nur potemkinsche Funktionen hat, weil es dabei um nichts als die Fassade des Lebens geht. In dieser Beziehung hat Marcuse nichts zu bieten, ganz im Gegenteil, seine Gedanken drücken aus, was er in seiner Autobiografie mit Verweis auf Schopenhauer den „Enthusiasmus gegen die Sicherheit“ nennt. Ihm geht es einzig um jene winzige, wehrlose Minderheit, das Individuum, um sein ganz persönliches Glück und um die Solidarität der Menschen, die dem stets zu gewärtigenden „factum brutum“, der menschlichen Bestialität, das „factum humanum“, das menschliche Mit-Gefühl, entgegenstellt und es dadurch (hoffentlich) domestiziert.

Der aktuellen Diskussion über unser Selbstverständnis als Bürger und als Mitmenschen täte es gewiss gut, mit einer gehörigen „Portion Marcuse“ (Ludwig, nicht Herbert) angereichert zu werden.

Die Hauptwerke von Ludwig Marcuse

Georg Büchner. Berlin 1922.

Strindberg. Das Leben der tragischen Seele. Berlin 1923.

Die Welt der Tragödie. Berlin 1923.

Gerhart Hauptmann und sein Werk. (Hrsg.) Berlin 1923.

Heinrich Heine. Ein Leben zwischen gestern und morgen. Berlin 1932.

Soldat der Kirche. Das Leben des Ignatius von Loyola. Amsterdam 1935.

Die Philosophie des Glücks. Von Hiob bis Freud. Zürich 1949.

Der Philosoph und der Diktator. Plato und Dionys. Berlin 1950.

Pessimismus. Ein Stadium der Reife. Hamburg 1953.

Sigmund Freud. Sein Bild vom Menschen. Hamburg 1956.

Amerikanisches Philosophieren. Pragmatisten, Polytheisten, Tragiker. Hamburg 1959.

Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiografie. München 1960.

obszön. Geschichte einer Entrüstung. München 1962.

Das denkwürdige Leben des Richard Wagner. München 1963.

Aus den Papieren eines bejahrten Philosophie-Studenten. München 1964.

Nachruf auf Ludwig Marcuse. München 1969.

Briefe von und an Ludwig Marcuse. Herausgegeben und eingeleitet von Harold von Hofe. Zürich 1975.

Essays, Porträts, Polemiken. Die besten Essays aus vier Jahrzehnten. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Harold von Hofe. Zürich 1981.

Wie alt kann Aktuelles sein? Literarische Porträts und Kritiken. Herausgegeben mit einem Nachwort und einer Auswahlbibliografie von Dieter Lamping. Zürich 1989.

Über Ludwig Marcuse

Dieter Lamping (Hrsg.): Ludwig Marcuse – Werk und Wirkung. Bonn 1987.

Karl-Heinz Hense: Glück und Skepsis – Ludwig Marcuses Philosophie des Humanismus. Würzburg 2000.

Anmerkungen

1 Darin ähnelt Marcuse seinem Zeitgenossen Hermann Broch, den die Mathematiker seiner Zeit nicht verstanden, weil er „eine ‚wundervolle Synthese‘ von Wissenschaft, die ,auf das Unmittelbare und Wirkliche‘ zurückgreife, und der dichterischen Erkenntnis, die allein die ,Unmittelbarkeit des Irrationalen‘ erfassen könne“, entwickeln wollte. – Vgl. dazu: Eberhard Rathgeb: Das eigentlich Mystische liegt im Rationalen. In: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 7. Juli 1999, S. N 5.

2 An dieser Stelle sei hingewiesen auf die überzeugende Darstellung von Wilhelm Weischedel: Skeptische Ethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.

3 Auf einen modernen deutschen Denker, der dieselben Fragen stellt, wenn er ihnen auch ganz anders zu Leibe rückt als Marcuse, ist an dieser Stelle hinzuweisen, auf den 1996 verstorbenen Hans Blumenberg und dessen illusionslose Sicht des modernen Menschen, dessen eigentliche Leistung in der Distanzierung des „Absolutismus der Wirklichkeit“ bestehe. So Franz Josef Wetz in der Zeitschrift „Mut“ aus dem Juli 1997.